Jom Kippur

Ausgerechnet Jom Kippur. Ausgerechnet mit diesem Namen verbinden sich Gewalttaten. Vielen von uns fällt zu diesem Namen vermutlich zuerst der Jom-Kippur-Krieg von 1973 ein.

Und jetzt, 2019, das Attentat von Halle.

Jom Kippur ist der allerhöchste jüdische Feiertag, 10 Tage nach Rosch Ha-schanah, dem jüdischen Neujahrsfest. Er ist der Höhepunkt einer zehntägigen Zeit, in der es darum geht, sich zu läutern, Ballast des alten Jahres abzuwerfen, und v.a. sich zu versöhnen mit wem auch immer man im alten Jahr Streit hatte und zu verzeihen.


Einen ausführlichen Bericht zu Jom Kippur hat Matti Goldschmidt vom Israelischen Tanzhaus e.V. in München verfasst:

Am Abend des 8. Oktober 2019, beginnt der jüdische Versöhnungstag, im Hebräischen Jom Kippur genannt (כיפור יום, engl. Day of Atonement). Manchmal erscheint dieser Ausdruck auch im Plural: Jom ha-Kippurim, weil dieser Begriff nur so in der Bibel erwähnt ist: etwa in Leviticus 25,9. Er gilt als der höchste Feiertag im Judentum; und da wie immer die Feiertage am Vorabend beginnen, ist das eigentliche Datum des diesjährigen Jom Kippur der 9. Oktober. Heutzutage, ganz im Gegensatz zu der Zeit um 1900, ist der Name eher bekannt im Zusammenhang mit einem Krieg zwischen Ägypten/Syrien und Israel, dem sog. Jom-Kippur-Krieg von 1973, wie er bei uns genannt wird. Die arabischen Staaten nutzten die (fast) totale Funkstille in Israel (Erläuterung dazu s.u.) zu einem Überraschungsangriff, der in der Anfangsphase für sie auch tatsächlich erfolgreich war (warum derAngriff asllerdings erst zu Mittag erfolgte und nicht etwa schon in den fürhen Morgenstunden, verstehe ich nicht ganz; allerdings befand sich die islamische Welt damals im Monat des Ramadan). In Ägypten wird dieser Krieg allerdings nicht in Zusammenhang mit „Jom Kippur“ gebracht (auch wenn gezielt genau dieser Tag gewählt wurde), sondern es wird das Datum genannt, wie es z.B. in der „Straße des 6. Oktober“ zum Ausdruck kommt. Vorläufiges Endergebnis dieses Krieges waren letztlich die Aufnahme diplomatischer Beziehungen der beiden Länder durch Anwar Sadat und Menachem Begin. Den Besuch Sadats in Jerusalem hatte ich seinerzeit, als Student in der Hauptstadt Israels wohnend, als Zeitzeuge miterleben können. U.a. staunend darüber, dass die gesmate Innenstadt mit ägyptischen Flaggen geschmückt war.

In den Tagen, die dem Jom Kippur vorausgehen (die yamim nora’im), ist man aufgefordert, um Verzeihung zu bitten und jene, gegen die man während des Jahres, subjektiv oder objektiv, falsch oder zumindest nicht ganz korrekt gehandelt hat, zu versöhnen. Neujahr (rosch ha-schanah) und der am zehnten Tage folgende Versöhnungstag bilden somit eine Einheit (Leviticus 16,29: „…im siebten Monat, am Zehnten des Monats…“); diese Periode der Trauer, Buße und Selbstüberprüfung wird mit eben diesem zehnten Tag abgeschlossen (Leviticus 16,30: „Denn an diesem Tage wird er euch sühnen, dass ihr rein werdet; von all euren Sünden sollt ihr rein werden vor dem Ewigen“), die Vorsätze für das laufende Jahr werden gewissermaßen besiegelt, d.h. das Schicksal des kommenden Jahres wird bestimmt. Die jüdische Religion lehrt uns, dass wir fähig sind, unser Leben selbst zu leiten, entweder den Pfad der Rechtschaffenheit zu wählen oder eben in Richtung Sünde zu gehen. S. auch Leviticus 23,27-32. Deutlich findet hier wieder das dualistische Prinzip Anwendung: Wer immer nach der „gottgegebenen“ Thora lebt, wird kein Problem haben, den ebenfalls gottgegebenen „bösen Trieb“ (jetzer ha-ra) zu überwinden.

Am Versöhnungstag selbst werden Bekannte und Verwandte wiederholt um Vergebung für möglichen Zwist, Ungunst, Missachtung u.a. gebeten. Man ist angehalten, seine zwischenmenschlichen Beziehungen in Ordnung zu bringen. Dabei heißt Versöhnung ausdrücklich nicht, etwas vergessen, gar ungeschehen zu machen. Es heißt vielmehr, auf Genugtuung, Vergeltung oder gar Rache zu verzichten; es sollte also insbesondere der Wille gezeigt werden, trotz allem in der Partnerschaft (im weitesten Sinne) den weiteren Weg gemeinsam gehen zu wollen. Voraussetzung dafür ist das Eingeständnis des Sachverhaltes, der Tat, gefolgt durch Reue, Verhaltensänderung und, soweit möglich bzw. notwendig, Wiedergutmachung. Auf der anderen Seite wird erwartet, dass der Angesprochene den guten Willen des Bereuenden akzeptiert und dies ihm in irgendeiner Form auch deutlich zu erkennen gibt. Denn Ausgleich und Versöhnung mit unseren Mitmenschen ist das höchste Ziel: Feindseligkeiten sollten beendet werden, es gilt die Parole, Frieden unter uns zu schaffen. Erst dann könne man sich an Gott wenden. Mit dem Sündenerlass ist also jedes Jahr ein gewisser Neuanfang ohne Sündenlast möglich.

Am Beginn des Abendgottesdienstes (also am Vorabend) wird ein bestimmtes Gebet, Kol Nidre genannt („alle Gelübde“), dreimal hintereinander gesungen*. Spanische Juden hatten es im 15. Jahrhundert nach ihrer Zwangstaufe formuliert, um an Jom Kippur Gott um Milde für ihren Religionswechsel zu bitten. In Bußgebeten (slichoth genannt) bittet man um Vergebung für die Sünden des vergangenen Jahres. Im Morgengottesdienst wird an die verstorbenen Verwandten erinnert (Gebet „yizkor“). Es wird die Geschichte vom Propheten Jona gelesen, der der assyrischen Stadt Ninive ihren Untergang ankündigen sollte. Dieser widersetzte sich jedoch Gottes Auftrag und entfloh seiner Bestimmung. Schließlich bereute er seinen Irrweg, kehrte um und fand Gnade vor Gott. Juden, die an Jom Kippur zu Gott beten, haben die Hoffnung, dass es ihnen nach ihrer Buße ebenso ergehen wird. Der Thoraschrein bleibt während des Abschlussgottesdienstes offen und der Tag wird mit einem letzten, langen Schofarton beendet.

In Israel spürt man den Jom Kippur überdeutlich, denn als Ruhegebot gilt, profan ausgedrückt, „Schabbath hoch zwei“: Sämtliche Radio- und Fernsehstationen senden nur Testtöne bzw. –bilder, der Straßenverkehr kommt fast zum Erliegen, selbst in nicht-orthodoxen Städten wie Tel Aviv sind fahrende Autos eher nur sporadisch zu sehen. Kinos, Restaurants usw. sind landesweit geschlossen. In Jerusalem ist das Gebiet der Klagemauer mit Gläubigen über-überfüllt. Viele tragen ein weißes Gewand, das zum einen eine gewisse Reinheit symbolisiert, zum anderen aber die begangenen und nun bereuten Sünden „weiß wie Schnee“ (Jesaia 1,18) werden sollen.

Seit Beginn der Säkularisierung der Juden in Mitteleuropa (ungefähr ab 1830) ist dieser Feiertag das wichtigste Bindeglied aller jüdischen Strömungen. So kann man beispielsweise in München verfolgen, dass etwa der sich in jüdischem Besitz befindende Einzelhandel in der Regel am Schabbath geöffnet ist; keinesfalls jedoch am Versöhnungstag.

Übrigens wird an Jom Kippur rund 26 Stunden gefastet (von Beginn des Sonnenuntergangs bis zum kompletten Ende des Sonnenuntergangs), vgl. Leviticus 23,27. Jeglicher Genuss, nicht nur der kulinarische, soll vermieden werden. Um das zu erleichtern, gilt es als Gebot, am Vortag – natürlich genügend vor Beginn des Sonnenuntergangs – ausreichend, ergiebig und gut zu trinken und zu essen. Religiöse Eltern segnen nach diesem Mahl ihre Kinder. Kinder unter 10 Jahre sind normalerweise vom Fasten ausgenommen; Kranke und Betagte lassen sich mitunter von einem Rabbiner beraten, wobei der Rat normalerweise wie folgt ausschaut: „Fasten Sie, so gut Sie können, sobald es Ihnen aber schwummrig wird, nehmen Sie eine Kleinigkeit zu sich“! Und wer mit dem Ausgang des „Schabbaths aller Schabbathe“ nach dem ersten Mahl seit 26 Stunden noch Kraft hat, beginnt noch am gleichen Abend mit den Vorbereitungen zum Laubhüttenfest (Sukkoth), das nur ganze fünf Tage später folgen soll. Ein weiteres Info dazu folgt in wenigen Tagen. In manchen Jahren fällt Jom Kippur auf einen Schabbath. Da der Schabbath als Ruhetag gilt, ist ein Fasten normalerweise untersagt. Allerdings wird hier eine große Ausnahme gemacht: Fällt Jom Kippur so wie 2017 auf einen Schabbath, muss auch dann gefastet werden – auch ein kiddush fällt dann aus (ein Segensspruch, der normalerweise vor dem Einnehmen der Mahlzeit am Freitagabend gesprochen wird). Eine der Erklärungen hierfür ist der Bezug von Seele zu Körper, der sich auf verschiedenen Ebenen abspielt. Nur auf niedrigster Ebene jedoch wird der Körper direkt ins Spiel gebracht und durch Essen „genährt“. Die Sättigung der Seele durch auf der anderen Seite göttliche Eingabe wird als wesentlicher stärker und wichtiger bewertet.

In Israel selbst bleibt die Welt natürlich nicht stehen. So ist vom Jom Kippur 2009 aus Israel zu berichten, dass über 2.200 Bürger an diesem Tag medizinische Hilfe benötigten. Bei 102 schwangeren Frauen sollen die Wehen eingesetzt haben und sie mussten (natürlich mit dem Auto) in Krankenhäuser gebracht werden. Gemäß Quellen des „Magen David Adom“ (= roter Davidstern, der Rotkreuzsektion Israels) wurden rund 50 Menschen aufgrund des Fastens ohnmächtig und benötigten ärztliche Hilfe, 16 von ihnen mussten wiederbelebt werden. Auch wurden 162 Kinder behandelt: Sie hatten sich beim Skateboard-, Rollschuh- oder Fahrradfahren auf den autofreien Straßen verletzt. Medizinisches und anderes Personal, das Menschen in Not hilft, ist natürlich von den Obligatorien dieses höchsten jüdischen Feiertages befreit; wenngleich es auch hier für Observante gilt, den Genuss auf ein notwendiges Minimum zu beschränken.

Wer in Israel weniger auf Religiöses hält, hat in diesen Stunden außerhalb der eigenen vier Wände nur wenige Möglichkeiten. Der Tel Aviver Strand ist beispielsweise äußerst mäßig besetzt, denn kaum jemand würde dorthin mit dem Auto fahren. Lediglich in Eilath am Roten Meer scheint es ein weltliches, wenn auch sichtlich eingeschränktes Leben zu geben: So sind z.B. die meisten Restaurants geschlossen – in den Hotels werden die Mahlzeiten nur den dort im Voraus gebuchten Gästen gereicht.

In Deutschland sind die Synagogen an diesem und den anderen beiden sog. „Hohen Feiertagen“ (Neujahr, Pessach) deutlich voller als an gewöhnlich Schabbathgottesdiensten. Es bestünde hier überdies die Möglichkeit, als (in einem Arbeitsverhältnis stehender) Angestellter jüdischen Glaubens an diesem Tag einen Urlaubstag (also einen Tag, der vom Urlaubskontingent abgezogen würde) einzuholen; der Arbeitgeber wäre zu einer Zustimmung gesetzlich verpflichtet. Jedoch machen nur wenige Angestellte davon tatsächlich Gebrauch. Freischaffende (Juristen, Ärzte usw.) kann man eher beobachten, an diesem Tag ihre Büro oder ihre Kanzlei geschlossen zu halten.

Über einen Jom Kippur von vor rund 90 Jahren (in einer ungenannten Kleinstadt im östlichen Mitteleuropa) berichtet Joseph Roth (Brody 1894 – Paris 1939):

„In einer Stadt, deren Einwohner in der überwiegenden Mehrzahl Juden sind, fühlt man das größte aller jüdischen Feste wie ein schweres Gewitter in der Luft, wenn man sich auf hoher See auf einem schwachen Schiff befindet. Die Gassen sind plötzlich dunkel, weil aus allen Fenstern der Kerzenglanz bricht, die Läden eilig und in furchtsamer Hast geschlossen werden – und gleich so unbeschreiblich dicht, dass man glaubt, sie würden erst am Jüngsten Tage wieder geöffnet. Es ist ein allgemeiner Abschied vom Weltlichen: vom Geschäft, von der Freude, von der Natur und vom Essen, von der Straße und der Familie, von den Freunden, von den Bekannten, Menschen, die vor zwei Stunden noch im alltäglichen Gewand, mit gewöhnlichen Gesichtern herumgingen, eilen verwandelt durch die Gassen, dem Bethaus entgegen, in schwerer, schwarzer Seide und im furchtbaren Weiß ihrer Sterbekleider, in weißen Socken und lockeren Pantoffeln, die Köpfe gesenkt, den Gebetmantel unter dem Arm, und die große Stille, die in einer sonst fast orientalisch lauten Stadt hundertfach stark wird, lastet selbst auf den lebhaften Kindern, deren Geschrei in der Musik des Alltagslebens der stärkste Akzent ist. Alle Väter segnen jetzt ihre Kinder. Alle Frauen umarmen einander. Alle Feinde bitten um Vergebung. Der Chor der Engel bläst zum Gerichtstag. Bald schlägt Jehova das große Buch auf, in dem Sünden, Strafen und Schicksale dieses Jahres verzeichnet sind. Für alle Toten brennen jetzt Lichter. Für alle Lebenden brennen andere. Die Toten sind von dieser Welt, die Lebenden vom jenseits nur je einen Schritt entfernt. Das große Beten beginnt. Das große Fasten hat schon vor einer Stunde begonnen… Aus tausend Fenstern bricht das schreiende Gebet, unterbrochen von stillen, weichen, jenseitigen Melodien, dem Gesang der Himmel abgelauscht. Kopf an Kopf stehen in allen Bethäusern die Menschen. Manche werfen sich zu Boden, bleiben lange unten, erheben sich, setzen sich auf Steinfliesen und Fußschemel, hocken und springen plötzlich auf, wackeln mit den Oberkörpern, rennen auf kleinem Raume unaufhörlich hin und zurück, wie ekstatische Wachtposten des Gebets, ganze Häuser sind erfüllt von weißen Sterbehemden, von Lebenden, die nicht hier sind, von Toten, die lebendig werden, kein Tropfen netzt die trockenen Lippen und erfrischt die Kehlen [es gilt ein absolutes Fasten, also auch kein Wasser – M.G.], die so viel des Jammers hinausschreien – nicht in die Welt, in die Überwelt. (…) Alle, ohne Unterschied, sind so arm wie die Armen, denn keiner hat etwas zu essen. Alle sind sündig, und alle beten. Es kommt ein Taumel über sie, sie schwanken, sie rasen, sie flüstern, sie tun sich weh, sie singen, rufen, weinen, schwere Tränen rinnen über die alten Bärte, und der Hunger ist verschwunden vor dem Schmerz der Seele und der Ewigkeit der Melodien, die das entrückte Ohr vernimmt…“

in: Juden auf Wanderschaft, München 1985, S. 39 f. (dtv 13430).

 

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